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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 15.11.2023


Lizzie Doron: Nur nicht zu den Löwen
Sigrid Brinkmann

Lizzie Dorons erste Romane (Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen, Der Anfang von etwas Schönen, Ruhige Zeiten, Es war einmal eine Familie) spielen im Viertel Yad Elijahu. Dort, am südlichen Stadtrand von Tel Aviv, ist sie …




… aufgewachsen – in einer Nachbarschaft von Menschen, die, wie ihre Mutter, Auschwitz überlebt hatten. Lizzie Doron ist "die" erzählerische Stimme der Zweiten Generation in Israel.

Weil sie darauf nicht reduziert werden wollte, nahm sie mit Who the fuck is Kafka und Sweet Occupation Israels Gegenwart in den Blick – was dazu führte, dass ihre letzten drei Bücher bislang nur in Deutschland erschienen sind. Auch ihr neues Buch ist in der Gegenwart verhaftet. Verstehen kann man das Drama der Protagonistin aber nur, wenn man die Shoah und die Aufbaujahres des jungen Staates Israel mitbetrachtet.

Sigrid Brinkmann über den Roman Nur nicht zu den Löwen

Rivi Grinfeld, 76 Jahre alt, soll die Wohnung räumen, in der sie seit ihrer Kindheit lebt. Stadterneuerer und Bauinvestoren haben das Gericht auf ihrer Seite, und die alte Frau begreift, dass nichts die Gentrifizierung des alten Tel Aviv aufhalten wird. Beim Packen der Kisten bilanziert sie ihr Leben – indem sie Nachrichten und Mails an ehemalige Geliebte und einen späten Freund schickt. Das Vorbild für die Figur der Rivi Grinfeld ist eine Frau, die außergewöhnlich schön und in den 1960er und 70er Jahren häufig auf Titelseiten von Sensationsblättern zu sehen war. Lizzie Doron ist ihr vor zwei Jahren zufällig begegnet. Danach haben sich die Frauen zu Gesprächen verabredet.

She was the lover of the boss (…) second best, not the first option.

Sie war die Geliebte ihrer Chefs, sie hatte heimliche Beziehungen zu hochrangigen Armeeoffizieren und ein Verhältnis mit einem der berühmtesten Ärzte des Landes. Sie war immer nur mit Promis zusammen. Ich habe eine Zeit gebraucht, um zu verstehen, welchen Preis jemand zahlt, der sich auf einflussreiche, nationale Idole einlässt. Sie war immer die zweite Wahl, nicht die erste.

Geradezu schmerzhaft nüchtern hält Dorons Protagonistin Rückschau. Offiziere und Generäle hatten in der Zeit nach dem Sechs-Tage-Krieg ein leichtes Spiel, Verhältnisse mit wehrdienstleistenden Frauen anzufangen, weil das Land die Armee brauchte und Kämpfer verherrlichte. Der gängigen Meinung, Soldatinnen seien missbraucht worden, hat Michal Zamir mit ihrem 2007 erschienenen Roman "Das Mädchenschiff" widersprochen. Folgt man Zamir, so hatten Rekrutinnen nichts dagegen, sich schnell "weiterreichen" zu lassen. Dorons Ich-Erzählerin Rivi Grinfeld verkörpert diese Haltung.

Ich bin das Flittchen der Kompanie (…) all die nächtlichen Stelldicheins in abgelegenen Winkeln, an heiligen Stätten, in Armeefahrzeugen und natürlich im Waffenarsenal des Stützpunkts.

Rivi Grinfelds Geliebte sind skrupellose Lügner, und die Liste der Erniedrigungen ist lang. Dass Eltern sich zu passiven Komplizen von Kommandeuren machten, die das eigene Kind demütigen, zeigt, welch hohes gesellschaftliches Ansehen das Militär seinerzeit genoss. Menschen, die nie wieder in ihrem Leben wehrlos sein wollten, boten ihre Töchter den kämpfenden Helden geradezu an.

»Wann wird geheiratet?«, fragte mein Vater. Ich schwieg. Er ging zum Telefon, und ich wusste, er würde auf dem Stützpunkt anrufen, würde bitten, mit dem Offizier Arik zu sprechen. Ich flehte, er möge auflegen, und als er nicht reagierte, riss ich ihm den Hörer aus der Hand, ließ nicht los, gab nicht nach. Der Kampf währte nur kurz, ich kassierte eine Ohrfeige.

Als Kind war es Rivi verboten, sich auch nur in die Nähe des Löwengeheges im Zoo von Tel Aviv zu wagen. Dass ihr Vater, der seine erstgeborene Tochter in der Shoah verloren hatte, die Furcht vor einem weiteren Verlust nicht kontrollieren konnte, begriff das Mädchen intuitiv. So wie es verstand, dass die Eltern andere Partner geliebt hatten, bevor sie nach Israel einwanderten. Doron zeigt, dass das undurchdringliche Schweigen der Eltern die Orientierungslosigkeit der Tochter begünstigte, wenn nicht sogar verursachte.

She had no words to describe (…) she arrived to the world.

Rivi hatte keine Worte, um auszudrücken, was ihr im Leben alles widerfahren ist, und es ist ihr nicht gelungen, eine eigene, selbstbewusste Persönlichkeit herauszubilden. Sie war von Geburt an verloren.

Als wollte die Autorin das Bedrückende dieses Urteils mildern, lässt sie ihre Protagonistin plötzlich alte Familienfotos betrachten. Statt Melancholie entdeckt Rivi im Gesichtsausdruck der Eltern nun einen Schimmer von Glück. Auf eine schlichte wie überzeugende Weise vermittelt Doron, dass das Bedürfnis, Momente heilen familiären Beisammenseins aufzuspüren, zutiefst menschlich ist. Als jemand, der in einer Gemeinschaft von Shoah-Überlebenden aufgewachsen ist, weiß die Autorin, was es heißt, "durch eine stumme Welt zu irren". Sie hat die mäandernden Geschichten vom nicht vergehenden Liebesschmerz einer Frau fiktionalisiert und zu einer überzeugenden Geschichte über Illusionen geformt, der sich Männer wie Frauen in den ersten Jahrzehnten des jungen Staates Israel leicht hingaben.

Dieser Beitrag wurde uns von der Journalistin Sigrid Brinkmann freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Erstmalig ist die Rezension am 01.10.2023 auf BAYERN 2, bei "Diwan Das Büchermagazin" www.br.de gesendet worden.
erschienen:

Lizzie Doron
Nur nicht zu den Löwen

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
Deutsche Erstveröffentlichung. 192 Seiten
23,00 Euro
Dtv, München (14.09.2023)
ISBN 978-3-423-28356-4
Mehr zum Buch und Lesungsterminen mit Lizzie Doron unter: www.dtv.de


Zur Autorin: Lizzie Doron, geboren 1953, lebt in Tel Aviv und Berlin. Sie erhielt 2018 den Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung. 2019 war sie Friedrich Dürrenmatt Gastprofessorin für Weltliteratur an der Universität Bern. 2003 wurde ihr Roman "Ruhige Zeiten" mit dem von Yad Vashem vergebenen Buchman-Preis ausgezeichnet. "Warum bist Du nicht vor dem Krieg gekommen?", das erste Buch von Lizzie Doron, erschien 2004 im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag.
2007 erhielt sie für "Das Schweigen der Mutter" den Jeanette Schocken Preis - Bremerhavener Bürgerpreis für Literatur. Es folgten die Romane "Der Anfang von etwas Schönem" (2007), "Es war einmal eine Familie" (2009), "Das Schweigen meiner Mutter" (2011), "Who the Fuck is Kafka?" (2015) und "Sweet Occupation (2019). (Quelle: Verlagsinformation, AVIVA-Berlin)

Weitere Bücher von Lizzie Doron

Lizzie Doron
Ruhige Zeiten
Originaltitel: Jamim schel scheket
Ãœbersetzt von Mirjam Pressler
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, erschienen 2005
176 Seiten, gebunden
ISBN 3-633-54218-3


Lizzie Doron
Der Anfang von etwas Schönem
Originaltitel: Hatchala schel maschehu jaffe
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, erschienen: 2007
257 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-633-54227-7


Lizzie Doron
Es war einmal eine Familie
Originaltitel: Hajta po pa ´am mischpacha
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, erschienen: 2009
142 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-633-54235-2


Lizzie Doron
Das Schweigen meiner Mutter
Originaltitel: ve jom echad od nipagesch
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Deutscher Taschenbuchverlag DTV, erschienen 2011
212 Seiten, Taschenbuch
ISBN 978-3-423-248952


Lizzie Doron
Who the Fuck Is Kafka?
dtv premium
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Deutsche Erstausgabe, erschienen 2015
256 Seiten
ISBN 978-3-423-26047-3


Lizzie Doron
Sweet Occupation
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
208 Seiten
Dtv premium, erschienen 2019
ISBN: 978-3-423-14691-3


Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Lizzie Doron


Lizzie Doron - Sweet Occupation
Die in Tel Aviv und Berlin lebende Schriftstellerin (u.a. "Warum bist Du nicht vor dem Krieg gekommen?", "Das Schweigen meiner Mutter") führt ihren in "Who the Fuck Is Kafka?" begonnenen inneren und direkten Dialog weiter. Dass Frieden zwischen Israelis und Palästinensern möglich ist, fordert sie in "Sweet Occupation" ein, stellvertretend für ihre Protagonisten, die Combatants for Peace. (2017)

Lizzie Doron - Who the Fuck Is Kafka?
Die israelische Schriftstellerin, die sich in ihren Werken wie "Ruhige Zeiten" und "Das Schweigen meiner Mutter" literarisch vor allem mit der Auseinandersetzung um die Traumata der Shoah -Überlebenden und der 2. Generation im Israel der 1950er Jahre verdient gemacht hat, erzählt in ihrer aktuellen Veröffentlichung von der problematischen Freundschaft einer Israelin aus Tel Aviv (Lizzie Doron) mit einem in Ost-Jerusalem lebenden Palästinenser (fiktiv: Nadim Abu Heni). (2015)

Interview with Lizzie Doron (anlässlich der Deutsch-Israelischen Literaturtage 2012)

"Das Schweigen meiner Mutter" von Lizzie Doron (2011)

"Es war einmal eine Familie", von Lizzie Doron (2009)

"Der Anfang von etwas Schönem" von Lizzie Doron (2007)

"Ruhige Zeiten" von Lizzie Doron (2005)


Literatur > Jüdisches Leben

Beitrag vom 15.11.2023

AVIVA-Redaktion